Die kleinsten Kapitäne der Erde


Bis heute ist nicht ganz klar, wann und wo der Kompass erfunden wurde. Einige Historiker glauben, es sei in China gewesen, um das Jahr 900 v. Chr. herum, andere meinen 1.000 Jahre später, also im Jahr 100 n. Chr. Erst im 12. Jahrhundert jedoch kam eine magnetisierte Nadel als Navigationsinstrument zum Einsatz. Diese knappen Informationen finden sich in fast jedem lexikalischen Eintrag zum Thema Kompass und seiner Geschichte. Weit weniger verbreitet sind jedoch Kenntnisse über eine ‚Nation‘, die bereits seit Jahrmillionen mit Magneten im Nanometer-Format arbeitet. Sie sind die Navigatoren der tiefen Ozeane, der Seen, Flüsse und Tümpel, und sie sind ausgestattet mit einer höchst effektiven Orientierungstechnik, der die Menschheit erst nach Tausenden von Jahren auf die Schliche gekommen ist. Die Rede ist von den sogenannten magnetotaktischen Bakterien.

In den frühen 1970-er Jahren beobachtete Richard Blakemore, ein junger amerikanischer Student, in einer Schlammprobe, die er einem See im US-Bundesstaat Massachusetts entnommen hatte, eine interessante Gruppe von Bakterien. Unter dem Mikroskop wanderten diese Bakterien nämlich offenbar unentwegt nach Norden und ließen sich weder durch ein Rütteln am Mikroskop noch durch eine Veränderung der Lichtverhältnisse davon abbringen. Das ließ nur einen möglichen Schluss zu, und dieser hörte sich erst einmal wirklich verrückt an: Diese Kleinstlebewesen müssen Sensoren besitzen, mit denen sie das Magnetfeld der Erde analysieren können! Blakemore stellte einen Magneten neben das Mikroskop und konnte sich schnell davon überzeugen, dass er recht hatte. Die Bakterien wurden vom Südpol des Magneten angezogen und von seinem Nordpol abgestoßen. Mit dieser Entdeckung wurde ein neues Feld der interdisziplinären Forschung eröffnet, auf dem sich fortan zahlreiche Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Disziplinen wie Mikrobiologie, Physik, Geophysik und Paläogeologie tummelten.

Um zu verstehen, wie magnetotaktische Bakterien das Magnetfeld wahrnehmen, lohnt ein Blick durch ein Transmissions-Elektronen-Mikroskop. (Abbildung 1) Dort lässt sich gut erkennen, dass die aus Magnetit (Eisenoxid)-Kristallen bestehenden Magneten in Form einer Kette (jeweils Nord- und Südpole hintereinander) angeordnet sind. Diese nennt man Magnetosom. Die gesamte Kette ist ca. ein Mikrometer lang, und jeder kleine Kristall ca. 50-60 Nanometer.

Jeder Kristall ist ein winziger Magnet, und in ihrer Gesamtheit sind diese Kristalle so ausgerichtet, dass sie sich gegenseitig verstärken und aus vielen winzigen schwachen Magneten einen großen starken Magnet formen. Eine Doppel-Lipidschicht umhüllt diese Kette und hält sie zusammen. Dass sich Magnetitkristalle zu einer geraden Linie formieren, ist eigentlich ein ausgesprochen ungewöhnliches Verhalten. Denn stellt man sie synthetisch her, so ballen sie sich zusammen. Wie und warum sich in den Magnetosomen Ketten bilden, ist nach wie vor ungeklärt.

Magnetotaktische Eigenschaften sind nicht auf eine einzige Spezies beschränkt. Es gibt viele verschiedene Bakterien mit magnetotaktischen Eigenschaften. Die Magnetosomen können sich in Größe, Länge und auch in ihrer Chemie unterscheiden. Bei einigen magnetotaktischen Bakterien ersetzen Greigit (Eisensulfid)-Kristalle die Magnetit-Kristalle. Auch gibt es magnetotaktische Bakterien mit mehr als einem Magnetosom. (Abb. 2)

Magnetosomen richten Bakterien passiv parallel zum Erdmagnetfeld aus, veranlassen diese Bakterien aber nicht, ihre Geschwindigkeit zu ändern. Nach dem Magnetfeld ausgerichtet entscheiden die Bakterien, sich entweder nach Süden oder nach Norden zu bewegen. Interessant ist, dass auf der Nordhalbkugel fast alle magnetotaktischen Bakterien nach Norden wandern und auf der Südhalbkugel fast alle nach Süden. Die Bakterien in der nördlichen und südlichen Hemisphäre besitzen also unterschiedliche Polaritäten, aber sie haben eines gemeinsam: Die Bewegung von beiden ist schräg nach unten hin gerichtet. Denn die magnetischen Feldlinien verlaufen nur am Äquator parallel zur Erdoberfläche. Auf der südlichen Hemisphäre verlaufen sie aufwärts, auf der Nordhalbkugel abwärts. (Abb. 3) Deshalb steuern die nach Norden wandernden Bakterien auf der Nordhalbkugel genauso den Grund von Gewässern an wie die nach Süden wandernden Bakterien auf der Südhalbkugel. Die meisten der magnetotaktischen Bakterien vertragen nur bedingt Sauerstoff. Daher ist es für sie überlebenswichtig, dass sie nach unten in tiefere Schichten streben, wo die Sauerstoffkonzentration gering ist. Dort, im Grenzgebiet von Sediment und Wasser am Grund eines Sees oder Meeres, herrschen für sie optimale Bedingungen.

Die Polarität ist ein genetisches Merkmal der magnetotaktischen Bakterien. Sie geben ihre Ausrichtung an ihre Nachkommen weiter. Das heißt: Fast alle Nachkommen einer nach Norden strebenden Zelle sind ebenfalls nach Norden strebende Zellen. Während der Zellteilung verbleibt in jeder Nachfolgezelle ein Stückchen der Kristallkette und dient als Vorbild für die neue Kette. Das funktioniert allerdings nicht immer; unter dem Mikroskop sind stets auch Mutanten zu erkennen, die in die falsche Richtung schwimmen. Deshalb verfügt jede natürliche Population magnetotaktischer Bakterien über weniger als 0,5% ‚falsche‘ Polarität-Mitglieder. Das Wort falsch steht deshalb in Anführungszeichen, weil die magnetotaktischen Bakterien ohne diese ‚Fehler‘ nur auf einer Erdhalbkugel leben würden. Gelegentlich haben Tochterzellen keine Magnetosomen oder sind vielleicht zu klein, um ein magnetisches Moment zu haben. Also entwickeln sie ihre eigenen Magnetosomen. Diese können die eine oder die andere Polarität aufweisen.

Magnetotaktische Bakterien sind nicht die einzigen Lebewesen, die das Erdmagnetfeld orten können. Zum Beispiel Vögel sind ebenfalls dazu in der Lage und finden im Flug ihre Richtung. Allerdings bedienen sie sich auch anderer Faktoren wie der Sonne und des Horizonts, um sich zu orientieren; darüber hinaus ist ihr Körper viel komplexer. Auch nehmen sie das Magnetfeld nicht mechanisch wahr, wie die magnetotaktischen Bakterien es zu tun, sondern wahrscheinlich mit Hilfe bestimmter chemischer Verfahren zur magnetischen Rezeption. Aber das ist ein anderes Thema und soll nicht Gegenstand dieses Artikels sein.

Alles, was wir um uns herum sehen, regt uns dazu an, über unseren Schöpfer nachzudenken. Auch Einheiten wie die hier beschriebenen magnetotaktischen Bakterien, die wir mit bloßem Auge gar nicht erkennen können, machen da keine Ausnahme. Magnetotaktische Bakterien synthetisieren Magnetitkristalle und reihen sie dann wie die Perlen einer Schnur aneinander. Kann man denn wirklich davon ausgehen, dass sie diese unglaubliche Aufgabe allein von sich aus bewältigen, und nicht im Namen Gottes? Bis heute gelingt es uns Menschen nicht, diesen Prozess im Labor zu imitieren, weil wir seine grundlegenden Prinzipien noch nicht in vollem Umfang durchschaut haben. Aber je mehr wir verstehen, desto größeren Respekt werden wir der Kunstfertigkeit des Größten aller Künstler entgegenbringen, desto mehr Ehrfurcht werden wir vor ihr empfinden

Schließlich hat mich meine Beschäftigung mit den magnetotaktischen Bakterien zu den Polarlichtern geführt, die mich schon immer in Staunen versetzt haben. Diese Polarlichter (Aurora borealis) sind bekannt dafür, dass sie mit ihren wunderschönen Farben die langen Winternächte am Polarkreis erträglicher machen. Sie entstehen, wenn die elektrisch geladenen Teilchen des Sonnenwinds in die oberen Schichten der Erdatmosphäre eindringen und mit den Atomen und Molekülen der Luft zusammenstoßen. Würden diese Teilchen jemals die Erdoberfläche erreichen und vom Erdmagnetfeld eingefangen, wären sie sehr gefährlich für Lebewesen. (Abb. 4) Doch mit demselben Erdmagnetfeld, mit dem unser Schöpfer und Versorger die winzigen Zellen in Umgebungen lotst, wo sie überleben können, schützt Er uns auch vor den tödlichen Solarwinden. Deshalb spüre ich Ihm gegenüber eine große Dankbarkeit. Das, was wir meistens für gewöhnlich und unbedeutend halten, ist in Wirklichkeit von herausragender Finesse.



Literatur
· Richard P. Blakemore; “Magnetotactic Bacteria”, in: Annual Review of Microbiology Nr. 36, 217-238; 1982
· Dirk Schüler; “Genetics and Cell Biology of Magnetesome Formation in Magnetotactic Bacteria”, in: FEMS Microbiol. Rev., Nr. 32, 654-672; 2008
· Arash Komeili; “Molecular Mechanisms of Magnetesome Formation”, in: Annual Review of Biochemistry, Nr. 76, S. 351-366; 2007
· Thorsten Ritz, Salih Adem & Klaus Schulten; “A Model for Photoreceptor-based Magnetoreception in Birds”. in: Biophysical Journal, Nr. 78, 707-718; 2000
· http://www.birdgeo.com/images/CTE1810.jpg
· http://solar-center.stanford.edu/images/solar-wind-magfield_b.gif


Geschrieben von Ahmet Uysal

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