Was führt zu Kufr also Unglaube

Details der Frage

Wir hören immer wieder wie dieser und jener kafir ist. was macht einem zum kafir und gibt es dann auch einen weg zurück?

Antwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

zu den beunruhigenden Entwicklungen unserer Zeit gehören vor allem jene Taten und Bestrebungen von Menschen, die Zwietracht und Disharmonie in der Gesellschaft fördern. Seinen Nächsten ohne ausreichenden Grund mit dem Unglauben bzw. der Apostasie zu bezichtigen zählt zu derartigen Freveltaten.

Unser Prophet (s.a.s) sagt diesbezüglich in einer Überlieferung:

„Wenn jemand seinen Glaubensbruder zum Ungläubigen (Kāfir) erklärt, so wird einer von ihnen definitiv ein Ungläubiger sein. Wenn der Beschuldigte in Wirklichkeit gar kein Ungläubiger ist, so richtet sich der Unglaube (kufr) zurück auf denjenigen, der die Anschuldigung äußerte.“

Somit werden wir als Muslime davor gewarnt, unserem Nächsten aufgrund einer Sünde oder einer Tat den Glauben abzusprechen, auch wenn das Ego den Menschen dazu verleitet, in solchen Situationen große Sünden als Zeichen des Kufr zu betrachten. So sollte stattdessen bedacht werden, dass große Sünden einen nicht zwangsläufig zum Leugner (Kāfir) machen.

Die Frage ob das Begehen großer Sünden einen zum Ungläubigen macht wurde in den ersten Jahrhunderten des Islam von Gelehrten stark diskutiert. Während abgeirrte Randgruppen wie die Ḫāriǧiten jeden Sündiger zum Kāfir erklären und meinen, dass er auf ewig in der Hölle verweilen wird, geben die Muʿtaziliten bekannt, dass ein solcher Sündiger sich zwischen dem Glauben und dem Unglauben befindet und somit weder Gläubiger (Mu'min) noch Ungläubiger (Kāfir) sein kann. Aufgrund dieser irrtümlichen Art der Argumentation setzten diese Gruppen sich von der Hauptströmung der muslimischen Gelehrsamkeit ab und konnten sich nicht etablieren. Die Ahl as-Sunna wal-Dschamāʿa, welche die große sich etablierte Mehrheit der Muslime darstellt, widerlegte derartige unzureichende Hypothesen und Ansichten mit stichhaltigen Beweisen und Argumenten. Diesbezüglich gibt es eine ganze Reihe von Belegen und Quellen, von denen an dieser Stelle beispielhaft nur zwei angeführt werden sollen:

Der bekannte Gelehrte und Sufi Yaḥyā b. Muʿāẕ ar-Rāzī regt mit folgenden Worten zum Denken an:

,,Der Īmān löscht in einem Zuge den Kufr von 70 Jahren aus.
Wie kann es dann sein, dass ein Īmān von 70 Jahren in einem Zuge von einer einzigen Sünde ausgelöscht werden soll?“*

*(wenn beispielsweise ein älterer Nicht-Muslim im Alter von 70 Jahren in den Islam eintritt bzw. ein Muslim im Alter von 70 Jahren sündigt)


Bei den Ḫāriǧiten sind viele Fehlinterpretationen zu finden wie beispielsweise bei folgendem Vers:

„Diejenigen, die nicht nach dem urteilen, was Gott herabgesandt hat, das sind die Ungläubigen.“  (Sura Māʾida 5:44)

Diesen Vers, den die Ḫāriǧiten so verstehen, dass jeder der sich Gott widersetzt wie etwa durch Sündigen zum Ungläubigen wird, kommentiert der berühmte Universalgelehrte Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī mit einer Überlieferung die auf auf den Propehtengefährten Ikrima (r.a.) zurückgeht: „Die Aussage des erhabenen Allahs: ‚Diejenigen, die nicht nach dem urteilen, was Gott herabgesandt hat … ’ bezieht sich auf jene, die sowohl mit ihrem Mund als auch mit ihrem Herzen Allah leugnen. Was denjenigen betrifft, der im Herzen akzeptiert was Gottes normative Bestimmung ist, diese innere Überzeugung auch mündlich zum Ausdruck bringt, jedoch Dinge tut, die im Gegensatz dazu stehen, wird als jemand erachtet der mit dem urteilt was Gott herabgesandt hat, aber rein praktisch dies nicht ausführt. So wird eine solche Person nicht zu denen gerechnet, auf die sich dieser Vers bezieht …“  (Tafsīr al-Kabīr Bd.9 S.86)

Unser modernes Zeitalter ist leider stark geprägt von vielen fehlsichtigen und verwerflichen
Strömungen, Irrlehren und Ideologien. Wieder einmal ist es zum Trend geworden, anderen Menschen ihren Glauben abzuerkennen und sie als Ungläubige oder Kuffār zu bezeichnen, trotz der Warnung unseres Propheten (s.a.s.) bezüglich des Takfīrs.

Um die Thematik des Takfīrs (die Praxis, einen Muslim zum Ungläubigen zu erklären) zu behandeln, ist es zunächst wichtig zu wissen, was genau den Kufr (Unglaube) ausmacht. Linguistisch bezeichnet der Begriff Kufr die Undankbarkeit gegenüber Gaben und Güte beziehungsweise das Verdecken und Verleugnen von Gunst. Im normativen Sinne bezeichnet Kufr die Ablehnung und Verleugnung von Glaubenswahrheiten aus nicht erzwungenem und freiem Willen heraus sowie Blasphemie, also die Verhöhnung und Verspottung von Gott oder der Religion.

So wie der Īmān durch Taṣdīq („das Fürwahrhalten“), also der inneren Überzeugung und Iqrār, dem mündlichen Bekenntnis vollständige Gültigkeit erlangt, so kommt auch der Kufr gleichermaßen durch diese Aspekte zustande. Diesbezüglich ist die Thematik der Alfāẓ al-Kufr, also der Aussagen die zum Unglauben führen von Relevanz.


Können wir jemanden von dem wir solche Aussagen hören sofort als Kāfir bezeichnen?
An dieser Stelle weisen unsere Gelehrten uns auf folgende Fragestellungen hin:
„Kennst du seine innere Überzeugung? Tätigt er seine Aussage aufgrund seiner Unwissenheit oder weil er wirklich eine Feindseligkeit gegenüber dem Glauben hegt beziehungsweise Spott über sie treiben will?“
Dieser feine Aspekt ist von enormer Bedeutung und gilt ebenfalls für Taten und Handlungen die wir beobachten.

Der besonders im Bereich der Koranexegese bekannte Gelehrte Elmalılı Hamdi Yazır betont diesbezüglich, dass es einen großen Unterschied zwischen der Leugnung einer Tat und der Unterlassung einer Tat gibt. Das Leugnen einer Tat impliziert die komplette Ablehnung dieser, während das Unterlassen einer Tat bedeutet, dass man diese in ihrer Gültigkeit zwar akzeptiert, sie aber nicht ausführt, nicht praktiziert. Daher ist beispielsweise das Leugnen des Gebets etwas anderes als das Meiden und Versäumen des Gebets.

Demnach begeht ein Mensch der das koranische Gebot des Pflichtgebets leugnet Kufr, wohingegen er definitiv nicht als Kāfir gilt, wenn er dieses Gebot akzeptiert und es dennoch nicht verrichtet. Dies gilt ebenfalls für das Sündigen. So ist es offensichtlich, dass jemand der vom Zinsverbot im Koran weiß und dies akzeptiert, aufgrund seiner Schwäche gegenüber seinem Nafs (Ego) diese Sünde jedoch begeht, nicht aus dem Glauben austritt.

Ahmet Ziyaeddin Gümüşhanevî sagt diesbezüglich:

„Wenn jemand eine Aussage tätigt, die in vielerlei Hinsicht als Kufr bewertet werden könnte, gleichzeitig jedoch in einer anderen Hinsicht auch als akzeptabel erachtet werden könnte, so muss der Mufti (Rechtsgutachter) letztere Beurteilung wählen, da beim Urteilen über Muslime positive Vermutungen und Annahmen als Grundsatz gelten.“

„Wenn seine Absicht nicht der Unglaube ist, so ist er Muslim. Wenn seine Absicht jedoch der Unglaube ist, so kann ihn die Fatwā eines Muftis auch nicht retten.”
(Gümüşhanevî, Ehl-i Sünnet Itikadı, S.68)

In dieser weisen Aussage wird auf zwei Aspekte hingedeutet, die in unserer Zeit besonders missbraucht werden. Diese sind negative Vorurteile und Vermutungen, die man anderen gegenüber hegt und die Anmaßung vieler, zu urteilen als wäre man ein Mufti.

In Anlehnung an den Takfīr ist im Werk Sünuhat aus dem Risale-i Nur Gesamtwerk folgende wegweisende und gegenwärtig für die Muslime sehr lehrreiche Passage zu finden:

„Zum Beispiel: diese getätigte Aussage ist Kufr. Also ist sie keine Eigenschaft die aus dem Īmān hervorgeht, sondern eine Kufr-Eigenschaft. Man sagt: Mit dieser Eigenschaft beziehungsweise Aussage hat die Person Kufr begangen. Die Person selbst jedoch nennt man nicht Kāfir, da sie über viele weitere Eigenschaften verfügt, welche rein sind und von seinem Īmān hervorgehen. Außer man wüsste zweifellos, dass die Aussage aus einem klaren Kufr der Person hervorgeht, denn eine derartige Aussage kann auch andere Gründe als Ursache haben. Die Ursache einer solchen Aussage beziehungsweise Eigenschaft ist an sich unklar und fragwürdig. Das Vorhandensein seines Īmān jedoch ist gewiss. Gewissheit kann nicht durch Zweifel aufgehoben werden. Wer sich also anmaßt, schnell zum Takfīr zurückzugreifen, soll dies bedenken! ...“ (Sünuhat, S.20)

Es kann also sein, dass bei einem Gläubigen Charakteristika vorhanden sind, die nicht von seinem Īmān stammen, sondern durch Unwissenheit, Einfältigkeit oder anderen Dingen auftreten. Da dieser Gläubige viele reine Eigenschaften besitzt, welche ihre Wurzeln in seinem Īmān haben, können wir ihn nicht als Ungläubigen bezeichnen. Sobald wir also Zeuge einer Aussage oder Tat eines anderen Gläubigen werden, welche wir als Anzeichen von Kufr erachten, sollten wir uns den oben geschilderten Maßstäben entsprechend verhalten. Solange wir also nicht gewiss sind, dass er damit die Absicht verfolgt den Islam zu leugnen, steht es uns nicht zu, ihm seinen Glauben abzusprechen und ihn zum Kāfir zu erklären. Da also der unmittelbare und gewisse Beweis fehlt um ihm den Glauben abzusprechen, haben wir von dem auszugehen, was uns bekannt und gewiss ist. Wenn wir diese Person fragen, wird sie sagen: „Ich bin ein Muslim, ich bin ein Gläubiger“, wonach dies für uns als Gewissheit gilt. Daher können wir nicht das Gewisse durch das Ungewisse aufheben und einen solchen als Ungläubigen bezeichnen.

Die Antwort die al-Azharī auf die Frage „Kann jemand der den Koran als erschaffen bezeichnet zum Kāfir erklärt werden?“ ist in diesem Sinne besonders hervorragend:

„Seine Aussage ist Kufr!“…

Als die Frage ihm dreimal hintereinander gestellt wurde, erwiderte er jedes Mal mit derselben Antwort und sagte dann: „Manchmal kann Kufr aus dem Mund eines Muslims kommen.“

Im Zusammenhang damit soll an dieser Stelle zu einer ähnliche Angelegenheit Bezug genommen werden, welche in der Abhandlung namens Münazarat im Risale-i Nur Werk behandelt wird.

Bei Diskussionen unter Muslimen über Themen wie die Politik kann es zu Meinungsverschiedenheiten kommen, was durchaus normal ist und aus Perspektive der Meinungsfreiheit betrachtet werden sollte. Dennoch kommt es manchmal dazu, dass derartige Diskussionen eskalieren und eine der Parteien aufgrund fehlender Argumente zum Takfīr des Gegenübers tendiert.
Man hört beispielsweise jemanden sagen: „Du unterstützt mit deiner Ansicht die Christen und hast somit Kufr begangen. Sagt der Koran uns nicht, dass wir uns Juden und Christen nicht zu Freunden nehmen dürfen?“

Dieser fatale Fehler wird in folgendem Kommentar korrigiert:

„Dieses Verbot (bezüglich des Anfreundens mit Juden und Christen) ist mit Blick auf das Jude-Sein des Juden und Christ-Sein des Christen zu verstehen. Wenn man Gefallen an jemandem hat, dann nicht unbedingt aufgrund seiner (religiösen) Gesinnung, vielmehr wegen seiner Charaktereigenschaften, seiner Persönlichkeit und seiner Begabung.“

Dieses Verbot richtet sich also gegen eine Sympathie für das Judentum und das Christentum. Beispielsweise fällt die Sympathie einem christlichen Land gegenüber unter dieses Verbot, sofern man es aufgrund seiner christlichen Prägung liebt. Wenn man das Land aufgrund von anderen Faktoren wie etwa der Kunst oder der Technologie in diesem Land mag und bewundert, so fällt dies nicht unter dieses Verbot.

So geht die oben rezipierte Passage wie folgt weiter:

„Wenn deine Ehefrau von den ahl al-kitāb (Jüdin oder Christin) wäre, dann würdest du sie selbstverständlich dennoch lieben.“

Wenn also ein Muslim beispielweise eine Christin als Ehefrau haben würde, würde er sie unter anderem deshalb lieben, weil sie seine Lebensgefährtin ist, ihren christlichen Glauben jedoch würde er nicht lieben. Diesen feinen Unterschied nicht beachtend werden gegenwärtig leider ärgerliche Irrtümer begangen.

Der Gesandte Gottes (s.a.s.) erwähnt in einer Überlieferung die Eigenschaften eines Heuchlers (Munāfiq) wie folgt:

„Wenn er redet lügt er, wenn er etwas verspricht so hält er es nicht ein, wenn ihm vertraut wird so übt er Verrat.“

Dieser Hadith enthält eine effektive pädagogische Nuance. So ist jedem Muslim bewusst, dass diese genannten Eigenschaften einen nicht zum Kāfir machen. Wir wissen auch, dass der Status eines Heuchlers (Munāfiq) unter dem eines Ungläubigen (Kāfir) ist, da er nicht nur ein Leugner ist, sondern sich auch noch als Muslim ausgibt und somit dem Islam gegenüber feindlich gesinnt ist.
Der Prophet Muhammad (s.a.s.) warnt die Muslime also vor diesen Eigenschaften und bekundet, dass diese die Eigenschaften von Heuchlern (Munāfiqūn) darstellen, welche sogar bitterer als Ungläubige (kuffār) gelten. Diese überzeugende Belehrung missinterpretierend einen Muslimen als Heuchler zu beschimpfen, nur weil dieser die genannten Sünden begeht, ist eine ebenso große Schuld und Primitivität wie beim zuvor beschriebenen Takfīr.

Leider treffen wir heute viele Muslime an, die stets versuchen die Sünden anderer Muslime als Zeichen ihres Unglaubens zu verstehen und so zu interpretieren. Unsere Gelehrten und Weisen pflegten diese Angelegenheiten ganz und gar nicht so negativ handzuhaben, wie es heute von vielen unwissenden Muslimen bekannt ist:

„Wer Said (mich) kennt, weiß von seiner stetigen Bemühung den Takfīr zu meiden. Selbst bei offenkundigem Kufr einer Person ist er bemüht, dies in irgendwie positiv zu interpretieren. Er würde ihn nicht des Unglaubens bezichtigen.“
(Bediüzzaman)

„Die Aussage eines Muslims, auch wenn nur schwach überliefert, sollte versucht werden möglichst positiv (zu seinen Gunsten) interpretiert und verstanden zu werden“
(Gümüşhanevî)

Gegenwärtig mangelt es in der gesamten islamischen Bevölkerung an gelehrten, vorzüglichen, bescheidenen, hilfsbereiten und Sündigenden gegenüber barmherzigen Muslimen. Ahnungslose, primitive, lieblose und provozierende Hetzer, die für Anarchie und Propaganda werben und lauter Slogans um sich werfen, können den Islam niemals repräsentieren.

Wir sollten es uns zur Pflicht machen, uns zu bemühen in die erste dieser zwei Kategorien zu gehören und anderen ebenfalls dazu zu verhelfen. Diesbezüglich ist dieser Hadith sehr lehrreich und wegweisend:

Abū Huraira (r.a.) berichtet:

Dem Gesandten Gottes wurde gesagt: „Oh Gesandter Allahs! Bete für das Unheil der Polytheisten (Mušrikūn)! Verfluche sie!“

Er antwortete: „Ich wurde als Barmherzigkeit gesandt, nicht als jemand der verfluchen soll!“

Fragen an den islam

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