Ich bin als kleines Kind aus der Heimat geflohen wegen dem Krieg. Heute lebe ich hier mein normales Leben. Zählt mein jetziges Leben als Hidschra?

Antwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

Hiǧra – Wird mit "Auswanderung" übersetzt. Im religiösen Kontext bezieht man sich dabei zumeist auf die zwangsmäßige Auswanderung des Propheten Muḥammad (s.a.s.) mitsamt seines Gefolges von Mekka nach Medina ca. Im Jahr 622 aufgrund der gewalttätigen Reaktionen der damaligen Mekkaner auf die Verkündigung der Prophetie Muḥammads (s.a.s.). Die Hiǧra wird auch als Beginn der islamischen Zeitrechnung bzw. des islamischen Kalenders benutzt.

Der Begriff hat aber neben der wörtlichen Übersetzung mit „Auswanderung“ auch eine wichtige religiöse Bedeutung und Fundierung. Darauf werden wir eingehen.

Die wegweisenden und beispielhaften Überlieferungen für die Themen, die in der Frage auftauchen und auch ähnliche Themen:

Die Taten (nicht anders) richten sich lediglich nach den Absichten; Welche Absicht ein jeder hegt, das kriegt er auch auf die Hand. Wessen Auswanderung für (das Wohlwollen von) Gott und seinen Gesandten (s.a.s.) ist, dessen Auswanderung wird als für Gott und seinen Gesandten gerichtet akzeptiert. Wer für die Welt, der er sich bindet oder für eine Frau, die er ehelichen wird auswandert, dessen Auswanderung wird seinem Ziel gemäß ausfallen. (Buhârî, Bedü'l-Vahy, 1; Müslim, İmare, 155; Ebu Davud, Talak, 11)


Dass diese Worte den Gesandten Gottes (s.a.s.) erteilt wurden ist mit der Auswanderung verbunden, das Hauptthema der Überlieferung ist also die Auswanderung. Der Überlieferung zufolge hat der ehrenwerte Prophet (s.a.s.) diesen Ausspruch auf dieses Geschehnis hin formuliert:

Alle wanderten von Mekka nach Medina für Gott aus. Allerdings ist ein Gefährte, dessen Name unbekannt bleibt für die Frau, die er liebte ausgewandert. (Kastalanî, İrşadü's-Sârî, 1/55)

Ohne Zweifel war diese Person eine gläubige Person, aber seine Absichten und Gedanken waren nicht Herr über seine Taten...
Er war auch ein Auswanderer, aber er war der Auswanderer seiner geliebten Frau. Die Mühen die man lediglich für Gott auf sich nehmen würde, hat er für seine geliebte Frau auf sich genommen. Ohne dass dabei Namen genannt werden könnten ist diese Angelegenheit zum Objekt der erwähnten Überlieferung geworden. Die Eigenart/Besonderheit der Angelegenheit ist kein Hindernis für die Allgemeinheit der Bestimmung. Daher ist die Bestimmung der Überlieferung allgemeingültig und umfasst alles und jeden.

Die Absicht

In der Tat ist es nicht nur bei der Auswanderung so, denn alle Handlungen richten sich nach der Absicht. Wer bei seiner Handlung das Wohlwollen Gottes und seines Gesandten beabsichtigt, der wird auch Gott und seinen Gesandten finden. Das ist ein allgemeingültiges Prinzip des Glaubens. Daher gilt auch für das Thema der Auswanderung dieses Prinzip. Wer stets und zuerst immer an das Recht seines Schöpfers denkt, der wird seinen Schöpfer auch immer bei sich finden. Dieses Finden besteht aus der Gnade, dem Schutz und den Gaben Gottes. Wenn der Mensch das alles findet, ist er außer sich for Freude, er eilt zum Gebet und versucht seinem Schöpfer noch näher zu kommen. Während er sich seinem Schöpfer nähert, wird dieses Gefühl prägend und leitend für alle seiner Handlungen. Im Schatten dieser Leitung wird sein Schöpfer ihm beim Übertreten in das Jenseits, wie auch im Grab, in der Wiederauferstehung und auch im Gericht bei ihm sein. Wenn aber ein Mensch nicht Gott sondern weltliche Dinge und Gelüste als Grundlage seiner Absichten hat werden alle Mühen und Kosten seiner Handlungen vergebens sein

Wer nur nach seinen Gelüsten lebt, nur in der materiellen Welt steht und liegt, nie seinem Gewissen und seiner Seele zuhört und seine Zeit vergeudet, der wird sein Leben weggeschmissen haben, aber nie das erreichen, was jene Menschen erreichen, die ihr Leben nach dem Wohlwollen und dem Willen Gottes ausrichten und organisieren. Dazu passt auch diese Überlieferung:

Die Absicht des Gläubigen ist besser/gesegneter als seine Handlung. (Mecmeu'z-Zevâid, I/61,109)

Letztendlich wird der Mensch nie die Handlung erreichen, die er in seiner Absicht aufbaut, egal wie sehr er sich bemüht. Es ist die Barmherzigkeit Gottes, mehr als die Handlung selbst, die zu Grunde liegende Absicht zu bewerten und demnach zu richten. Daher bringt die Absicht des Menschen viel mehr, als seine Handlungen es schaffen könnten. Auch aus dieser Perspektive ist also die Absicht des Gläubigen gesegneter als seine Handlung. 

Zum Thema passend kann auch diese Überlieferung herangezogen werden:

Seid vorsichtig! Im Körper des Menschen ist ein Fleischklumpen. Wenn dieser Fleischklumpen eine Richtung/Besserung erfährt, wird auch der ganze Körper eine Richtung/Besserung erfahren; Wenn es zu Grunde geht, geht auch der ganze Körper zu Grunde. (Buhari, İman, 39; Müslim, Müsakat, 107; Müsned, IV/280)

Wenn die Reinheit im Glauben herrscht, werden alle Samen, die damit eingepflanzt werden zu Leben erwachsen. Sie werden zu Anfang zwar klein sein, aber sie wachsen prachtvoll und werden euch schützenden Schatten spenden. Sie werden nach der Tragweite eurer Absichten wachsen und im Paradies Gottes euch als Früchte des Paradieses entgegen treten.

Mit der Absicht transformiert der Mensch seine Traditionen und Gewohnheiten in eine Art Gottesdienst. Ein Mensch der mit der Absicht nachts Gottesdienste zu verrichten, sich abends zu Bett legt, der betreibt sogar mit seinen Atemzügen im Schlaf eine Art Gedenken Gottes. Wie wäre es auch sonst denkbar, dass der Mensch mit seiner kurzen Lebensspanne und seinen noch kürzeren guten Handlungen das ewige Paradies Gottes verdient? Wenn dem Gläubigen das ewige Leben verliehen wird, dann als Gabe für seine Absicht ewig zu dienen und das Resultat dieser Absicht ist das ewige Paradies. Das selbe Prinzip gilt für den Ungläubigen. Durch seinen Unglauben und die darin liegende unbegrenzte Absicht verdient er sich seinen Platz in der Hölle. Ohne Ausnahme von groß oder klein, jede Tat wird einzig und allein durch die Absicht, die hinter ihr steckt auf- oder abgewertet.

In guten Taten gibt es selbst Verdienste die nur durch die Absicht entstehen. Beispielweise kriegt ein Mensch mit der Absicht etwas Gutes zu tun, einen Lohn gutgeschrieben, auch wenn er dann die beabsichtigte Tat nicht ausüben konnte. Falls er seine Absicht zu realisieren vermag, wird dies stellenweise manchmal zehn fach, manchmal hundert fach und manchmal sogar noch stärker belohnt. Die Sünden werden aber nicht als solche gewertet, wenn sie nur bei der Absicht bleiben und nicht realisiert werden. Falls doch werden sie aber auch nur einfach gewertet. Selbstverständlich erfordert jede Sünde eine Strafe, die der Art der Sünde gerecht wird. (vgl. Buhari, Rikak, 31; Müslim, İman, 206-207)

Auswanderung

Es ist nicht außer Acht zu lassen, dass der Auswanderung in der Überlieferung ein besonderer Platz zukommt. In seiner spezifischen Bedeutung ist die Auswanderung beendet:

Nach der Auswanderung aus Mekka gibt es keine Auswanderung. (Buharî, Cihad, 1, Müslim, İmare, 85)

In allgemeiner Bedeutung wird die Auswanderung weitergehen und zwar bis zum Ende aller Tage. Denn die Auswanderung und der Ǧihād sind Zwillinge, sie sind zusammen geboren und werden zusammen aufleben. Dass der Ǧihād bis zum Ende aller Tage weiterleben wird ist auch festgehalten:

Der Ǧihād wird bis zum Ende aller Tage weitergehen. (Heysemî, Mecmeu'z-Zevâid; 1/106)

Ein jeder zum Dienst Gottes verschriebener Mann, der seine Geliebten und seine Familie verlässt um verirrten Seelen den Pfad der Tugend näher zu bringen, ist in einem endlosen Kreis des Segens aufgenommen und er wird dessen Belohnung definitiv erhalten. Es wird auch von einem besonderen Segen gesprochen hier, die Vermutung liegt nahe, dass das Jenseits für so eine Person ein ganz besonderes Geschenk bereithält. Dies ist ein Geschenk direkt von Gott.

Auswanderung von den Sünden

Aus einem weiteren Blickwinkel ist die Auswanderung ein Absagen, gar eine Flucht vor den Sünden. Ohne Zweifel ist der größte Auswanderer der, der alle Begierden, Lieben und Gelüste aus seinem Herz tilgt, um darin nur Platz für Gott zu lassen.

„Ya Rabbī, mit deiner Liebe bin ich gefesselt. Ich habe alles was nicht du bist verlassen um zu deiner Audienz zu kommen. Nachdem ich dich gefunden habe, haben meine Blicke nichts mehr gesehen...“ Genau als er sich in der Fülle seiner Gebete und in der damit einziehenden spirituellen Atmosphäre befand, sieht er seinen Sohn am Rande der Kaaba. Und sein Sohn sieht ihn. Mit der Sehnsucht all der Jahre rennen sie auf einander zu. Genau als sie sich innig liebkosen erklingt leicht eine Stimme: „Ibrahim, in einem Herz können sich keine zwei Lieben aufhalten.“ In dem Moment schreibt Ibrahim erneut auf: „Nimm was von deiner Liebe abhält ya Rabbī...“ Und sein Sohn ist vor seinen Füßen zusammengebrochen...“ (Ferîdüddin Attâr, Tezkiretü'l-Evliya, İbrâhim Ethem'in hayatı kısmı)

Die Auswanderung zur Barmherzigkeit Gottes

Von den Sünden flüchtend, an dem Tor des Vergebens zu warten und sich nicht zu rühren, bis die Vergebung erteilt wird, ist auch eine Form der Auswanderung: „ya Rabbī, dein sündiger Diener ist zu dir gekommen. Er gesteht seine Sünden und fleht dich an. Falls du ihm vergibst, ist dies eine Zurschaustellung deiner Größe und deins Ruhms. Falls du ihn wegschickst, wer sonst könnte ihm Gnade schenken?“ Wer sich seinen früheren Sünden für immer absagt und nun rückblickend wegen dieser Sünden leidet, lebt nach der wahren Bedeutung der Auswanderung. Wer die Grenzen des Erlaubten und Unerlaubten wie ein Mienenfeld betrachtet und sich davon fernhält, mit Hand, Fuß, Auge, Ohr, Mund und Zunge, der lebt nach der Bedeutung der Auswanderung für den Rest seines Lebens. Das gilt auch wenn er abgeschieden oder in Gesellschaft lebt.

Der wahre und bestimmende Wert jeder Handlung ist also nicht in der Materie zu suchen, sondern in der Absicht, die sie begründet. Wir dürfen also nicht den Fehler begehen, die von Gott gebilligten Handlungen, die wir von seinen Propheten und den spirituellen Größen unserer Religion für unsere geheimen privaten Zwecke arbeiten zu lassen. Wir müssen anfangen das zu sein, was diese Handlungen repräsentieren wollen. Erst und nur dann erblühen diese Rosen in unserem Herzen, in unserem Leben und in unserem Jenseits auf.

Fragen an den islam

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Fragen an den islam
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